Die fünf Vayus – die unsichtbaren Strömungen unserer Lebensenergie
- Olga Kuhn

- 21. Okt.
- 5 Min. Lesezeit

Visualisierung der fünf Vayus – inspiriert durch die Yogaphilosophie, erstellt mit Unterstützung einer KI.
Prana – unsere Lebensenergie
Prana ist die Lebenskraft, die alles Leben durchdringt. Sie fließt in jedem Atemzug, in jedem Herzschlag und in jeder Zelle unseres Körpers. Prana ist die unsichtbare Energie, die Bewegung, Bewusstsein und Leben überhaupt erst möglich macht. In der yogischen Philosophie gilt Prana als das grundlegende Prinzip, das Körper, Geist und Seele miteinander verbindet. Ohne Prana gäbe es kein Leben, keine Bewegung, kein Denken und kein Fühlen.
In der Yogapraxis nähern wir uns dieser Energie über den Atem. Denn mit jedem bewussten Atemzug erinnern wir uns daran, dass wir Teil eines größeren Ganzen sind. Wenn wir einatmen, empfangen wir Energie. Wenn wir ausatmen, geben wir sie wieder zurück. Prana ist nicht etwas, das wir besitzen, sondern etwas, das uns durchströmt und mit allem Lebendigen verbindet.
Damit diese Energie in uns wirken kann, braucht sie Kanäle und Richtungen. In der yogischen Lehre wird sie in fünf Hauptströmungen unterteilt. Diese Bewegungen des Pranas nennen sich Vayus.
Vayu – der Wind der Lebenskraft
Das Wort Vayu stammt aus dem Sanskrit und bedeutet Wind oder Luft. Damit wird bereits die Beweglichkeit dieser Energie angedeutet. So wie der Wind unsichtbar und doch kraftvoll ist, wirkt auch der Vayu in uns. Er bewegt, verbindet und lenkt alle Lebensprozesse.
Die Vayus sind die subtilen Steuerungsenergien, die alle körperlichen und geistigen Funktionen regulieren. Sie sind Ausdruck der Elemente Luft und Raum und eng mit dem ayurvedischen Prinzip des Vata-Dosha verwandt. Vata steht für Bewegung, Wandel und Dynamik. Wenn Vata in Balance ist, fühlen wir uns lebendig und klar. Wenn es gestört ist, entstehen Unruhe und Nervosität.
In ähnlicher Weise sorgen die Vayus dafür, dass Prana harmonisch fließt. Sie bringen Ordnung in die vielfältigen Bewegungen des Lebens und verbinden das Körperliche mit dem Feinstofflichen.
Die fünf großen Vayus
Gemäß den alten Schriften, insbesondere den Upanishaden, manifestiert sich Prana in fünf Hauptströmungen, den sogenannten Maha Vayus. Jede dieser Energien erfüllt eine bestimmte Funktion im Körper und im Geist. Gemeinsam bilden sie ein fein abgestimmtes System, das das Leben aufrechterhält.
Der große Yogameister B.K.S. Iyengar beschreibt dies sehr treffend in seinem Werk „Licht auf Yoga“:
„Eine der subtilsten Energieformen ist die Luft. Diese Lebensenergie, die auch den menschlichen Körper durchströmt, wird nach den Hatha-Yoga-Texten in fünf Hauptkategorien eingeteilt, entsprechend den verschiedenen Funktionen, die sie ausüben. Diese Kategorien heißen Vayu, Wind.“
Diese fünf Vayus heißen Prana, Apana, Samana, Udana und Vyana. Sie sind wie fünf Winde, die in verschiedene Richtungen wehen und doch miteinander verbunden sind. Wenn sie in Harmonie wirken, fühlen wir uns ausgeglichen, vital und zentriert.
Prana Vayu – die Energie des Empfangens
Prana Vayu bewegt sich im Bereich von Brust und Kopf. Es ist die Kraft, die nach innen fließt und uns stärkt. Prana Vayu hilft uns, zu empfangen – sei es Atem, Nahrung, Sinneseindrücke oder Inspiration. Es ist die Energie des Einatmens und der Aufnahme von allem, was uns nährt.
Wenn Prana Vayu in Balance ist, fühlen wir uns wach, offen und präsent. Wir nehmen die Welt mit wachen Sinnen wahr und können sie gleichzeitig mit innerer Ruhe aufnehmen. In der Yogapraxis wird Prana Vayu durch Herzöffnungen, leichte Rückbeugen und achtsame Atemarbeit gestärkt.
Diese Energie erinnert uns daran, uns selbst für das Leben zu öffnen und voller Vertrauen zu empfangen, was es uns schenkt.
Apana Vayu – die Kraft des Loslassens
Apana Vayu sitzt im unteren Bauchraum und wirkt nach unten. Es ist die Energie des Loslassens, der Reinigung und der Erdung. Apana unterstützt alle Ausscheidungsprozesse im Körper, die Verdauung, die Menstruation, die Sexualität und die Geburt. Es ist auch die Kraft, die uns hilft, Gedanken, Emotionen und Erfahrungen loszulassen, die uns nicht mehr dienen.
Wenn Apana Vayu harmonisch fließt, fühlen wir uns sicher, geerdet und innerlich ruhig. Eine ruhige, gleichmäßige Ausatmung ist Ausdruck dieser Energie. In der Praxis spüren wir Apana Vayu besonders in stabilen Haltungen, in sanften Hüftöffnungen und in Momenten des bewussten Ausatmens.
Diese Energie lehrt uns, Vertrauen zu haben und das loszulassen, was überflüssig geworden ist.
Samana Vayu – das Feuer der Mitte
Samana Vayu wirkt im Bereich des Nabels und des Verdauungssystems. Es sammelt die Energie, die von außen aufgenommen wird, und entscheidet, was davon genährt werden darf und was ausgeschieden werden soll. Samana steht für das innere Feuer, das transformiert, verdaut und ausgleicht.
Diese Energie sorgt nicht nur für die Verdauung der Nahrung, sondern auch für die Verarbeitung von Gedanken und Erfahrungen. Sie schenkt uns die Fähigkeit zu unterscheiden, was uns stärkt und was uns schwächt.
In der Yogapraxis begegnen wir Samana Vayu in Drehhaltungen, Core-Übungen und zentrierenden Asanas. Wenn diese Energie in Balance ist, spüren wir Klarheit, Selbstvertrauen und innere Ruhe. Wir ruhen in unserer Mitte.
Udana Vayu – der Atem des Ausdrucks
Udana Vayu ist im Hals- und Kopfbereich beheimatet. Es ist die aufsteigende Energie, die unseren Ausdruck, unsere Stimme und unsere Kommunikation lenkt. Sie schenkt uns die Fähigkeit, unsere Wahrheit auszusprechen und uns authentisch zu zeigen.
Udana Vayu ist auch mit der geistigen Klarheit und der Inspiration verbunden. Sie erhebt das Bewusstsein und verbindet uns mit höheren Ebenen des Seins. Wenn Udana frei fließt, fühlen wir uns leicht, kreativ und verbunden mit unserem inneren Ausdruck.
In der Yogapraxis kann Udana durch Atemübungen, Mantra-Rezitation oder Meditation aktiviert werden. Diese Energie führt uns zu einer klaren und liebevollen Kommunikation – mit uns selbst und mit anderen.
Vyana Vayu – der Strom des Ganzen
Vyana Vayu ist die Energie, die im gesamten Körper wirkt. Sie durchzieht jede Zelle und sorgt dafür, dass alles miteinander verbunden bleibt. Diese Energie verteilt Prana, Blut, Nährstoffe und Vitalität im ganzen Organismus.
Wenn Vyana in Harmonie ist, fühlen wir uns lebendig, kraftvoll und weit. Der Körper bewegt sich geschmeidig, und auch der Geist fühlt sich offen und fließend an. Vyana Vayu steht für das Gefühl von Ganzheit – das Bewusstsein, dass alle Teile in uns miteinander verbunden sind.
In der Praxis erleben wir Vyana Vayu in fließenden Bewegungen, in Übergängen zwischen den Asanas und im harmonischen Zusammenspiel von Atmung und Bewegung.
Die fünf subtilen Vayus
Neben den fünf großen Vayus gibt es noch fünf kleinere Strömungen, die besonders im Kopfbereich wirken. Diese werden Naga, Kurma, Krikara, Devadatta und Dhananjaya genannt.
Naga Vayu sitzt im Mundraum und ist mit Schluckauf, Rülpsen und Bewusstheit verbunden. Kurma Vayu steuert die Augenlider und schützt unsere Wahrnehmung. Krikara Vayu wirkt in der Kehle und reguliert Hunger und Durst. Devadatta Vayu bringt Gähnen und Niesen hervor, um Spannungen zu lösen. Dhananjaya Vayu schließlich ist die Energie, die auch nach dem Tod im Körper verbleibt und den Übergang begleitet.
Diese subtilen Vayus unterstützen die Hauptenergien und sorgen für ein feines Gleichgewicht im gesamten System.
Warum die Vayus für unsere Praxis wichtig sind
Das Verständnis der Vayus öffnet uns eine tiefere Dimension der Yogapraxis. Wenn wir lernen, die inneren Bewegungen des Pranas zu spüren, wird jede Asana zu einer Meditation in Bewegung. Wir erkennen, dass es im Yoga nicht um äußere Formen geht, sondern um das Erleben von Energie.
Die Vayus helfen uns, Balance zu finden. Prana und Apana schaffen die Grundlage für Stabilität. Samana bringt uns in unsere Mitte. Udana erhebt uns und öffnet den Geist. Vyana schließlich verbindet alles zu einem harmonischen Ganzen.
Je bewusster wir mit diesen Energien umgehen, desto klarer spüren wir unsere innere Ausrichtung und Lebenskraft.
Vayus im Alltag erleben
Die Arbeit mit den Vayus ist nicht auf die Yogamatte beschränkt. Sie begleitet uns in jedem Moment. Wenn wir bewusst atmen, bevor wir sprechen, wenn wir achtsam essen oder uns Zeit nehmen, um zu verdauen – dann leben wir mit den Vayus.
Ein ruhiges Ausatmen kann uns helfen, Spannungen zu lösen und Apana zu stärken. Ein klarer, aufrechter Sitz fördert Udana und unsere Ausdruckskraft. Bewegung und Dehnung lassen Vyana frei fließen. So wird der Alltag selbst zur Praxis des bewussten Energieflusses.





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